Dieses Buch ist kein Fachbuch, sondern eine Familiengeschichte. Der Untertitel der englischen Originalausgabe trifft den Inhalt etwas besser: »The Untold Story«. Die Autorin und Enkelin soll bei der Feier des 90. Geburtstag des Großvaters Jean-Jacques Cartier eine Flasche Champagner aus dem Keller holen. Stattdessen findet sie einen Koffer voller alter Briefe. Und damit beginnt eine zehnjährige Recherche über die wenig bekannte Geschichte der Familie. Während die Tank-Uhr und die erste Fliegeruhr, die Santos, oder auch die Pasha Uhrenliebhabern ein Begriff sind, ist die Geschichte der Familie Cartier weniger bekannt.
Aber auch der deutsche Untertitel hat seine Berechtigung: Über vier Generationen erstreckt sich die Familiensaga, welche die Ur-Ur-Ur-Enkelin recherchiert. Erfrischend sind die Auszüge aus den Gesprächen mit dem Großvater, der auch persönlich in Textpassagen zu Wort kommt. Die Anfänge liegen am Beginn des 19. Jahrhunderts. In der Familie Cartier waren sieben Münder zu füttern und es kam dem ältesten Sohn, Louis-François Cartier zu, seinen Beitrag beizusteuern. Obwohl er vielseitige Interessen hatte, steckte ihn sein Vater in eine Lehre bei einem Juwelier. Jeden Morgen verließ er das beengte Zuhause und ging 20 Minuten im Stadtteil Les Halles zu seiner Arbeitsstelle.
Die Cartiers – Der Beginn eines Imperiums
In diesem Viertel der Juweliere besaß sein Lehrherr ein zweistöckiges Atelier. Als dieser seine Firma 1847 an ein nobleren Ort versetzen will, ergibt sich für Louis-François mit finanzieller Unterstützung der Familie und auf Raten die Möglichkeit, das Atelier zu erwerben. Das macht ihn mit 27 Jahren zum Besitzer eines Juweliergeschäfts, der Keimzelle der späteren Dynastie. Aber auch arrangierte Ehen spielen eine wichtige Rolle in der Familiengeschicht. Sein Sohn, Louis-François Alfred Cartier, wurde mit einer millionenschweren Erbin verheiratet.
Es sind dann dessen drei aus dieser Ehe entsprossenen Söhne, die Cartier zu einem weltumspannenden Unternehmen machen. Ihr Vater ist nach den Wirren der Pariser Commune und des deutsch-französischen Krieges von 1870 nicht zuletzt durch seine Heirat in der Oberschicht angekommen. Die drei Brüder wollten das Geschäft über Paris hinaus erweitern. Louis, der älteste Sohn, übernahm den Firmensitz in Paris und die Verantwortung für Europa. Seinem Bruder Pierre teilte er Nord- und Südamerika zu. Jacques übernahm die Niederlassung in London und damit zu gleich die britischen Kolonien.
Drei Brüder teilen die Welt unter sich auf
Die Brüder hatten ein enges Verhältnis zu ihrem Vater und Großvater und auch untereinander war die Familie alles. Jedes Unternehmen wurde selbstständig geführt. Aber die weltweiten Krisen umschifften die drei Brüder, indem sie die teuersten Steine und die Kunden von einer Niederlassung zur anderen verlagerten. Mit den drei Brüdern wächst das Unternehmen zu enormer Bedeutung.
Besonders Louis macht den Platinschmuck salonfähig und prägt eine Epoche. Für den brasilianischen Flugpionier Santos Dumont entwirft er die gleichnamige Fliegeruhr. Pierre ist der geborene Verkäufer und eröffnet das Geschäft auf der 5th Avenue und Jacques prägt den typischen Cartier-Stil. Die Schwestern werden gut verheiratet. die Schwiegertöchter sind meist wohlhabend. Das Buch ist eine spannenden Wirtschafts- und Familiengeschichte und sie endet mit der nächsten, in Wohlstand aufgewachsenen Generation.
Mit der vierten Generation endet die Familiengeschichte
Der Sohn von Louis, Claude, interessiert sich mehr für das weibliche Geschlecht als das Geschäft und veräußert die New Yorker Niederlassung, ohne die Familie zu informieren. Die Tochter von Pierre Cardin veräußert die Pariser Niederlassung und wird Künstlerin. Jean-Jacques Cartier ihn London hält am längsten durch. Für ihn spielen auch Uhren eine große Rolle und er weitete das Angebot drastisch aus. Hatte Louis noch eng mit Edmund Jaeger zusammengearbeitet, so setzte Jean-Jacques die Kooperation mit der Nachfolgegesellschaft Jaeger-LeCoultre fort. Besonders flache Uhren hatten es ihm angetan und sie stellten die Konstrukteure oft vor große Herausforderungen. Auch die erste Faltschließe wurde von Jaeger-LeCoultre entwickelt und 1901 exklusive für Cartier patentiert. Unter Jean.Jacques Ägide entstand 1967 auch die legendäre »Crash«. Sie wurde auf Wunsch de Schauspielers Stewart Granger gefertigt, der etwas »Unübliches« wünschte. Die Konstruktion von Zifferblatt und Gehäuse stellte enorme Herausforderungen. Das Werk steuerte Jaeger-LeCoultre bei.
Stewart Granger erwarb eines der ersten Exemplare, nur zum es eine Woche später wieder zurück zu bringen. Es war ihm zu ungewöhnlich. Von der ersten Crash wurden nur sehr wenige Exemplare gefertigt. Aber der wirtschaftliche Flop der Crash war nicht der Grund des nahenden Endes. Es waren die Geschwister, welche die Auszahlung des Erbes verlangten. Und unter dem Eindruck der Ölkrise verkauft auch Jean-Jacques als letztes Familienmitglied die Londoner Niederlassung. Im Jahr 1974 ist Cartier kein Familienunternehmen. Heute sind die drei Firmenteile wieder unter dem Dach der Richemont Gruppe vereint. Die Cartiers – Eine Familie und ihr Imperium, aus dem Englischen von Frank Sievers, fester Einband mit Schutzumschlag, 700 Seiten, ISBN 978-3-458-64365-4 34 Euro
Das Fazit vorneweg: Dieses Buch ist einfach gute Unterhaltung. Es ist eine Familiengeschichte und kein Fachbuch. Aber es macht begreiflich, wie der Name Cartier zu dem Weltruhm gelangte, den er bis heute besitzt. Aufstieg und Fall des Imperiums über vier Generationen machen das Buch zu einer Art Buddenbrooks der Juwelenwelt. Nicht nur, weil das Buch viele Geschichten zu bieten hat, sondern weil die Geschichten eine Autorin gefunden haben, die sie erzählen kann.
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