Es gibt Momente, in denen die Uhrmacherei nicht nur Modellpflege betreibt, sondern an die Substanz geht. 2025 gehört in diese Kategorie: Mit der Oyster Perpetual Land‑Dweller und ihrem Kaliber 7135 hat Rolex eine neue Hemmung vorgestellt, die den Schweizer Anker offen infrage stellt – und damit eine Entwicklung weiterführt, die bei Breguet und George Daniels begann. Zeit für einen Blick darauf, wohin sich das Herz der mechanischen Uhr bewegt.
Ein neues Ticken
Die Land‑Dweller wirkt auf den ersten Blick wie eine klassische, moderne Rolex – robustes Gehäuse, sportliche Optik, bekannte Designcodes. Im Inneren arbeitet jedoch ein 5‑Hz‑Werk, dessen Herzstück eine neu konstruierte Silizium‑Hemmung ist, die mit höherer Frequenz, verbessertem Wirkungsgrad und erweitertem Leistungsversprechen antritt. Dass Rolex überhaupt auf 36.000 Halbschwingungen pro Stunde geht, ist eine Nachricht für sich, denn höhere Frequenz kostet normalerweise Energie und verkürzt die Gangreserve. Genau hier setzt das Konzept der Dynapulse‑Hemmung an: mehr Präzision, ohne die Uhr dicker zu machen oder den Alltag zu verkomplizieren.
Was Rolex da gebaut hat
Die Dynapulse‑Hemmung setzt auf zwei aus Silizium gefertigte Hemmungsräder, die nacheinander arbeiten und die Energie sequentiell an den Oszillator weitergeben. Statt großer Gleitflächen, wie beim Schweizer Anker, wird der Impuls überwiegend über rollende oder nahezu rollende Kontakte übertragen, was die Reibungsverluste drastisch reduziert. Laut technischen Beschreibungen arbeitet das Kaliber 7135 deutlich effizienter als ein klassischer Anker mit vergleichbarer Architektur, sodass trotz 5 Hz eine Gangreserve von etwa 66 Stunden erreicht wird. Möglich wird dies durch ein komplett in Silizium ausgeführtes Assortiment (Hemmungsräder, Impuls‑Komponente, Zwischenrad), das extrem leicht, präzise und hart ist.
Vom Schweizer Anker zur »Natural«-Idee
Über ein Jahrhundert lang war der Schweizer Anker der industrielle Goldstandard: robust, einfach zu fertigen, gut zu regulieren.
Seine Achillesferse bleibt jedoch die hohe Gleitreibung zwischen Paletten und Hemmungsrad, die Schmierstoffe verlangt, altert und langfristig Amplitude kostet. George Daniels’ Co‑Axial‑Hemmung war einer der ersten ernsthaften Versuche, dieses Problem zu lösen, indem der Impulsanteil auf direkte Kontakte verlagert und der Ölbedarf reduziert wurde. Dahinter steht eine Idee, die auf Breguets Natural Escapement zurückgeht: mehrere Räder, die direkt auf den Oszillator wirken, mit möglichst wenig Gleitreibung und damit besserem Wirkungsgrad.
Reibung, Energie, Service
Im Kern geht es bei all diesen Entwicklungen um ein scheinbar profanes Thema: Reibung. Jede Gleitbewegung im Hemmungssystem vernichtet Energie, die der Unruh nicht mehr für Amplitude und Stabilität zur Verfügung steht. Wird sie durch rollende oder sehr kurz andauernde Kontakte ersetzt, steigt der Wirkungsgrad, was mehr Gangreserve, höhere Frequenz oder beides gleichzeitig erlaubt. Theoretisch ermöglichen solche Geometrien einen nahezu ölfreien Betrieb der Hemmung, in der Praxis arbeiten Hersteller allerdings meist mit minimalen Schmierstoffmengen an ausgewählten Punkten. Das verbessert die Langzeitstabilität, verschiebt aber die Servicefrage eher in Richtung »seltener, aber anspruchsvoller« statt »nie wieder.
Silizium als Enabler – und seine Schattenseiten
Silizium ist der Werkstoff, der diese Formen von Hemmungen überhaupt wirtschaftlich möglich macht: paramagnetisch, sehr leicht, extrem hart und mit Hilfe von Tiefenätzverfahren in komplexe, federnde Geometrien bringbar. Hinzu kommt eine intrinsisch niedrige Reibungsneigung, was in Verbindung mit der richtigen Oberflächenbearbeitung den Bedarf an klassischem Öl deutlich reduziert. Dem stehen Fragen gegenüber, die Sammler umtreiben: proprietäre Wafer‑Lieferketten, eingeschränkte Reparierbarkeit außerhalb offizieller Netzwerke und die Unsicherheit, ob identische Ersatzteile in 40 oder 50 Jahren überhaupt noch verfügbar sein werden. Während Messing‑Räder und Stahlpaletten grundsätzlich auch später nachgefertigt werden können, hängt ein Silizium‑Assortiment stark an industrieller Infrastruktur.
Was heißt das für Sammler und Alltagsträger?
Für den Alltagsträger verspricht eine effizientere, siliziumbasierte Hemmung potentiell stabilere Gangwerte, bessere Resistenz gegen Magnetfelder und längere Intervalle zwischen den Services. Gleichzeitig steigt der Spezialisierungsgrad: Eingriffe werden komplexer, und die Abhängigkeit vom Hersteller nimmt zu – sowohl technisch als auch politisch. Für Sammler stellt sich die Frage, ob die klassische Ankerhemmung damit zur nostalgischen Lösung wird, während Systeme wie Dynapulse den neuen Standard markieren – ein Prozess, der bei Omega und dem Co‑Axial‑System bereits zu beobachten ist. Vielleicht werden Ankerhemmungen in ein paar Jahrzehnten so wahrgenommen wie heute Schraubenunruhen: nicht zwingend besser, aber mit einem klar nostalgischen Mehrwert.
Kleine Chronik der alternativen Hemmungen
Über die Jahrzehnte gab es eine ganze Reihe von Versuchen, den Schweizer Anker zu überholen: Breguets Natural Escapement, Daniels’ Co‑Axial-Hemmung, die Omega erfolgreich industrialisiert hat, moderne Umsetzungen wie das Dual Direct von Ulysse Nardin und diverse Silizium‑Pilotprojekte großer Marken.
Zwischen diesen Konzepten und Dynapulse verläuft eine klare Linie: weg von Gleitreibung, hin zu direkteren Impulsen und höherem Wirkungsgrad. Mit der Land‑Dweller steht eine dieser Lösungen nun nicht mehr in einer Nischen‑Kleinserie, sondern im Programm einer der größten Uhrenmarken der Welt. Ob das der Beginn des »zweiten großen Eskapement‑Umbruchs« ist oder nur ein Karbonrad an einer Kutsche, wird die Zeit zeigen – dass sich etwas Grundsätzliches bewegt, ist aber kaum zu übersehen.
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